*** Gibt es ein Leben nach dem Tod? Existiert die Seele? Was würde geschehen, wenn der schützende Vorhang fällt und wir die Toten sehen könnten? ***

Für Lilly, die seit frühen Kindertagen Kontakt zu ihrer verstorbenen Seelenliebe hat und dadurch am Rande der Schizophrenie entlang spaziert, bricht der gewohnte Alltag in sich zusammen. Gemeinsam mit ihrer Familie rutscht sie von einer Katastrophe in die nächste, denn es bilden sich sehr schnell Allianzen gegen die Seelen. Mit militärischem Einsatz wollen die Bündnisse verhindern, dass sich die Menschen weiterhin den Seelen anschließen.
Lilly muss dabei feststellen, dass die Angst vor dem Tod nicht verschwindet, obwohl der größte Beweis hinter ihr steht:

Der Tod ist nicht das Ende.

 

 

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Leseprobe:

 

Kapitel 1

 

 

 

Hand in Hand schlendert Lilly mit ihrem Ehemann Steve durch ein Berliner Wohngebiet im Stadtbezirk Steglitz. Sie genießen den frühen Morgen, frei von ihren Kindern und der ständigen Arbeit.

 

Durch die ruhigen Einfamilienhäuser sind die Fußgängerwege fast leer und es ist ein schöner Spaziergang, mitten in der Hauptstadt. Überall ist Natur. An den Straßenseiten stehen hohe Kastanienbäume in voller Blüte und aus den Gärten verströmen Flieder ihren wunderbaren Duft.

 

Die Frühlingssonne scheint unermüdlich aus dem blauen Aprilhimmel und wärmt ihre Gesichter. Eine wohltuende Ruhe breitet sich in Lilly aus, die Zweisamkeit ist traumhaft.

 

Viel zu wenig Zeit können sie miteinander verbringen. Die Kinder sind schon größer und Lilly hoffte, dass sie jetzt mehr Freizeit zusammen haben, aber die Arbeit hält beide voll im Griff.

 

Steve ist Baggerfahrer aus Leidenschaft und von früh bis abends beschäftigt. Da sein Gehalt ausreichend ist, geht Lilly einer Herzensangelegenheit nach. Sie arbeitet im Hospiz und begleitet Menschen beim Sterben. Das ist eine sehr lebensbereichernde Beschäftigung für sie, wenn auch nicht immer leicht. Bei älteren Menschen sagt sie sich immer: „okay, das ist der Lauf des Lebens“, aber wenn jüngere Leute vor ihr im Bett liegen oder sogar Kinder, wird es schwierig. Doch auch diese Menschen brauchen Halt - Einen Gesprächspartner, jemanden, der für sie da ist oder mit ihnen ein Kartenspiel spielt. Es sind die kleinen Dinge, die für sie ganz groß sind.

 

Natürlich beschäftigen sie sich auch mit den wichtigsten Fragen rund ums Sterben. „Ob der Tod schmerzt?“ Dies ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Medikamente spenden viel Abhilfe und trotzdem können sie nicht alles lindern. Das Wissen, das man zeitnah sterben wird, muss grausam sein und ist für Lilly unvorstellbar.

 

Viele helfen sich dann mit ihrem Glauben. „Bin ich bald bei Gott?“, fragte eine alte Frau und Lilly wusste, dass sie sehr religiös war. Sie unterstützte sie bei ihren schönen Gedanken - auch wenn sie selbst nicht daran glaubt und blieb bei ihr - bis sie die Augen für immer schloss.

 

„Wo bin ich hier?“, hörte Lilly die zarte Stimme plötzlich in ihrem Kopf. Ihre zweite Seite meldete sich sofort zu Wort. Eine, die für viele unbegreiflich ist und daher unter anderem als Schizophrenie betitelt wird. Lilly fällt es sehr schwer damit umzugehen und sie erklärte ihr, wer sie nun war und wie sie weiterziehen könnte.

 

Steve weiß kaum etwas davon. Auch wenn er an ein Leben nach dem Tod glaubt, so macht es ihm Angst. Lilly versucht das zu akzeptieren und schweift dennoch sehr oft in diese Gedankenwelt ab. Seit ihrer Kindheit hört sie Stimmen in ihrem Kopf und wenn sie die Augen schließt, dann kann sie die Toten sehen.

 

Vor nicht allzu langer Zeit saß sie beim Arzt im Wartezimmer und eine männliche Stimme verlangte, dass sie der Patientin neben ihr etwas mitteilen sollte. Das war dann auch für sie zuviel! Niemals würde sie in der Öffentlichkeit darüber reden. Sie würden sie sowieso nur für verrückt halten und das konnte sie auch allein gut genug. Also lebt sie ihr Leben, so gut wie es eben geht, normal und ihre zwei Kinder bestärken sie darin. Lilly möchte nicht, dass sie eine kranke Mutter haben.

 

 

 

„Lilly?“, hört sie Steve leise fragen.

 

„Ja Schatz?“

 

„Bist du wieder in Gedanken?“

 

„Nein“, lächelt sie ihn an: „heute bin ich nur bei dir.“

 

„Siehst du das auch?“, fragt Steve und reißt sie aus seinem schönen Anblick.

 

„Was denn?“

 

„Dort fallen schwarze Krümel aus dem Himmel.“

 

„So ein Blödsinn“, neckt sie ihn und sieht dann nach oben.

 

Die dunklen Teilchen kommen bedrohlich näher und mit einem Male sind beide mittendrin. Es ist, als würden sie in einem Konfettiregen stehen. Einem, der nur aus schwarzen Papierteilchen besteht.

 

Steves Hand zieht hastig an ihrem Arm. Sie erkennt ihn nur schleierhaft, weil die vielen Partikel ihre Sicht einschränken. Um sie herum bricht Panik aus.

 

Menschen stürzen aus ihren Häusern und rennen in jede Richtung. Autos quietschen weiter entfernt auf der Hauptstraße und immer wieder knallt es.

 

„Wir müssen unsere Kinder holen“, schreit Steve. Lilly kann kaum denken und lässt sich von ihm ziehen.

 

„Nein warte, wir bleiben hier“, mühsam bringt sie ihn zum Stoppen. „Wir können sowieso nichts sehen.“

 

„Und was willst du jetzt machen? Abwarten?“

 

„Ja“, entgegnet Lilly, weil sich eine andere Stimme in ihr erhebt. Die, ihrer Seelenliebe. Er ist schon seit einer gefühlten Ewigkeit tot und suchte den Kontakt zu ihr. Lilly brauchte viele Jahre um damit umzugehen und nicht immer wieder in Depressionen zu verfallen. Auch der Alltag mit Steve wurde durch ihn schwerer. Diese übermenschliche Liebe zu spüren, lässt sich schwierig mit Worten beschreiben. Sie ist mächtig und verbindet sie.

 

Lilly rührt sich keinen Zentimeter mehr und Steve hält sie in seinen Armen. Es scheint, als würde die Welt zerbrechen. Verschwunden sind die schönen Blüten des Flieders und auch die mächtigen Kastanienbäume lassen sich nur noch erahnen. Die kleinen, schwarzen Partikel sausen durch die Umgebung und wenn sie etwas berühren, dringen sie hindurch und fliegen weiter.

 

„Wir müssen zu unserem Auto.“

 

„Warte bitte noch kurz.“

 

„Worauf?“

 

Darauf hat Lilly keine plausible Antwort und bleibt still.

 

„Lass uns gehen!“

 

„Nein.“

 

Sie bleiben an der kleinen Seitenstraße stehen und vereinzelt rennen kreischende Menschen an ihnen vorbei. Steve zittert am ganzen Körper. Diese Ungewissheit, was nun geschehen könnte oder was dieses Spektakel ausgelöst hat, zermürbt Lilly. Sie ahnt das Schlimmste und will nicht zulassen, dass es wirklich so wird, wovor sie die Toten seit Jahren warnen.

 

 

 

Ein lautes Motorengeräusch nähert sich ihnen und lässt Steve aufblicken. „Ist das unser Jeep?“

 

Lilly formt ihre Augen zu Schlitzen, um besser sehen zu können. „Sieht so aus“, flüstert sie mit bebender Stimme.

 

Ihr unverkennbarer, auberginenfarbener Jeep Grand Cherokee hält vor ihnen und die Türen öffnen sich.

 

Geschockt steht Lilly wie angewurzelt da. Kein Muskel möchte sich mehr rühren.

 

 

 

„Los steigt ein!“

 

„Warum?“, fragt Steve unsicher den Fahrer. „Steig du lieber aus und lass mich fahren! Immerhin ist es unser Auto!“

 

„Du kannst kaum etwas sehen! Ich fahre! Steigt ein!“, fordert er erneut.

 

„Was soll das? Was passiert hier?“, fragt Steve erschüttert.

 

„Ich erkläre euch alles, wenn ihr einsteigt! Bitte Lilly!“, fleht er und starrt sie durchdringend an.

 

Er kennt ihren Namen. Ist er es wirklich? Wieso? Das macht Lilly fassungslos und Steves fragender Blick gibt ihr den Rest.

 

Immer mehr kleine Teilchen schwirren rasend schnell durch das Stadtgebiet. Eine meterhohe, gelbe Energiesäule taucht neben ihnen auf und beschleunigt den Entschluss, einzusteigen. Steve wirft sich auf den Beifahrersitz, während Lilly auf die Rücksitzbank springt. Sie knallen die Türen zu und der Mann tritt sofort auf das Gaspedal. Das Auto rast los und Lilly dreht sich zu der Säule um, die an Größe verliert und sich zu einem Menschen formt.

 

„Kann es wahr sein? Das ist doch unmöglich! Auch wenn sie damit drohten … das geht nicht! Lillys Gedanken gleichen einem Spießrutenlauf. Ihr Herz pocht wie wild.

 

Das Auto saust die Straßenallee entlang und es ist ein Wunder, das es nicht gegen einen Baum prahlt. Zitternd am ganzen Körper versucht Lilly sich zu beruhigen, dabei durchbohren sie die Augen von ihrem ungewöhnlichen Fahrer. Ständig schaut er in den Rückspiegel und sucht Blickkontakt.

 

Steve sieht bestürzt zu dem Mann und danach zu seiner Frau. „Alles okay bei dir?“, fragt er besorgt. „Schnall dich lieber an.“ Lilly nickt und sucht den Gurt. „Alles in Ordnung?“, erkundigt er sich erneut.

 

„Alles gut Schatz“, lügt sie. „Und bei dir?“, fragt sie gewohnheitsmäßig, obwohl ihr gar nicht nach sprechen zumute ist.

 

„Na ja.“ Steve sieht zu dem Mann, der wie ein Verrückter das Auto über die Straße bewegt. „Sag mal, bist du nicht…?“ Er unterbricht sich und der Mann sieht kurz zu ihm und darauf in den Rückspiegel.

 

„Warum hast du ihm nicht von mir erzählt?“, fragt er. Lilly fehlen die Worte und schüttelt stumm den Kopf.

 

Um sie herum tobt weiterhin der Sturm der Materie und verdeckt das gewohnte Bild der Stadt. Die schwarzen Teilchen fliegen auch durch das Auto, sie sind überall. „Die Mauer ist zerbrochen, endgültig“, erklärt er.

 

„Welche Mauer?“, fragt Steve. „Sag mal, bist du nicht dieser Jack? Du siehst aus wie er, aber das kann nicht sein!“

 

Der Mann lächelt ihn an und sieht geschwind zu Lilly. „Eure Kinder sind schon in Sicherheit. Jetzt müsst ihr noch dorthin!“

 

„Du bist Jack!“ Steve wird kreideblass. „Ich erkenne dich, weil Lilly als Kind ein Fan von dir war und dein Bild in unserem Flur hängt … Aber er ist vor vielen Jahren gestorben!“ Wieder lächelt er Steve an.

 

„Die Mauer zwischen Leben und Tod ist zerbrochen. Die kleinen Elemente, die hier herumfliegen, symbolisieren das. Es gibt nichts mehr zwischen uns, das euch an den Wahrnehmungen hindert“, entgegnet Jack.

 

„Bedeutet das, wir sehen jetzt Alle tote Menschen?“ Verdutzt blickt Steve ihn an und schluckt angestrengt.

 

„Seelen, wir sind Seelen. Ein Streit der Ansichten ist entbrannt. Alle werden versuchen, die hier verbleibenden Seelen von sich zu überzeugen.“

 

„Ich denke, es gibt kein Gut oder Böse, kein Richtig oder Falsch?“ Endlich hat Lilly ihre Stimme wieder gefunden.

 

„Das gibt es auch nicht, aber die Fronten haben sich verhärtet. Sie meinen, sie müssen ihre Überzeugungen, die sie woanders kennenlernten, den Anderen aufdrücken. Für die Urseele gibt es das nicht, aber es hat sich zu sehr vermischt und dadurch verselbstständigt.“

 

„Ich verstehe kein Wort davon! Du bist Jack? Der Sänger, der vor vielen Jahren verstarb?“, fragt Steve irritiert.

 

„Meine Seele steckte in seiner Körperhülle und ich kann deswegen seine Gestalt annehmen. Lilly? Rangedia wird den passenden Augenblick suchen, dich für seine Seite zu gewinnen. Du weißt, das meine richtig ist, oder?“

 

„RICHTIG?“

 

„Vergiss das mit der Neutralität der Urseele. Keiner von uns ist das mehr! Stehst du zu mir?“

 

„Wie bist du?“, fragt Steve.

 

„Gut.“

 

„Ja genau und Rangedia würde das ebenfalls sagen, weil er derselben Meinung über seine Seite ist.“

 

„Wer ist das? Woher kennt ihr euch?“, fragt Steve.

 

„Warum hast du ihm nicht alles über uns erzählt?“

 

„Wie hätte ich das machen sollen? Das ist kein einfaches Thema. Er hat mich schon so oft genug für verrückt gehalten“, versucht Lilly sich zu verteidigen.

 

„Trotzdem wäre es jetzt leichter!“ Jack hält kurz inne und konzentriert sich auf den spärlich sichtbaren Straßenverkehr. Dann wendet er sich an Steve. „Unsere Seelen kennen sich. Ich und Rangedia sind mit Lilly in Liebe verbunden.“ Fordernd starrt Jack daraufhin in den Rückspiegel und durchlöchert seine Liebste mit seinem Blick. „Du musst dich von ihm fernhalten, BITTE!“

 

„In Liebe verbunden? Was bedeutet das? Lilly, betrügst du mich?!“

 

„Ja Schatz. Ich habe dich seit Jahren mit zwei Geistern betrogen.“ Lilly beginnt zu lachen und schüttelt den Kopf. „Du glaubtest mir nie. Wenn ich versuchte, es dir zu erzählen, sagtest du, es wären nur meine Gedanken. Ich habe mich mehrfach in ihnen verloren, zusammen mit den Beiden. Ich konnte doch nicht wirklich ahnen, dass es Realität wird.“

 

Lilly schüttelt nur noch den Kopf über diese Tatsache, die jetzt wahrscheinlich vielen Menschen widerfährt. Um sich abzulenken sieht sie aus dem Fenster in die veränderte Umgebung. Es fliegen weniger Teilchen umher, sodass die Sicht sich bessert. Sie fahren an unzähligen Menschen vorbei, die erstaunt um die verschieden farbigen Seelensäulen stehen. Imposant ragen sie bis zu vier Meter in die Höhe. Dabei bewegt sich ein grünes Auge – der Ursprung – durch die Masse.

 

„Ich verstehe das immer noch nicht, wohin fahren wir?“ Steve ist mit seinen Nerven komplett am Ende. Er versteht die Welt nicht mehr.

 

Jack drosselt das Tempo und sieht sich um. „Unser Ziel ist ein hohes Gebäude am Potsdamer Platz. Eure Kinder warten dort schon auf euch. Dann seid ihr in Sicherheit.“

 

„Und wie sind unsere Kinder dahin gekommen?“, fragt Steve.

 

„Ich habe sie auf dem Weg zur Schule abgefangen, bevor das Chaos begann. Eure Kinder erkannten mich sofort, weil sie meine Seele ebenfalls sehr lange kennen.“

 

„Aber sie konnten dich nicht sehen, oder? Du konntest das Auto noch nicht fahren? Die Mauer war doch zu diesem Zeitpunkt noch nicht zerfallen?“, mischt sich Lilly neugierig ein.

 

„Aber sie bröckelte. Kinder sind in dieser Weise schon immer anfälliger für uns gewesen. Ich nehme jetzt meinen eigentlichen Seelenkörper wieder an. Ich wollte nur erreichen, dass ihr beide mich erkennt.“

 

Entsetzt sieht Steve zu Jack, als er komplett verändert neben ihm sitzt. Seine blonden Haare hellen noch mehr auf und sind länger. Er hat weder Nase, noch Ohren. Um seine Mundöffnung stülpt sich dünn seine weiße Seele und erinnert dadurch an Lippen. Seine Augen besitzen keine Pupillen und sind komplett blau. Seinem Körperbau fehlen sämtliche Knochen und Muskeln. Alles, was noch an das Menschensein erinnerte, ist jetzt nur noch eine beseelte, merkwürdig aussehende Körperhülle. Lilly erkennt ihn dennoch sofort wieder.

 

„Seht ihr alle SO aus?“, fragt Steve verstört.

 

„Das gleiche kann ich dich auch fragen.“ Jack lächelt ihn an und sieht dann wieder in den Rückspiegel. Dauernd sucht er Blickkontakt, den Lilly lieber vermeidet. „Du musst dich von Rangedia fernhalten, BITTE!“

 

Sie nickt ihn kurz zu, ist sich aber nicht sicher, ob sie sich daran halten wird. Rangedia bedeutet ihr sehr viel, egal auf welcher Seite er steht. Seine Seele ist komplett anders, obwohl sie ihn dank Jack kennenlernte. Durch den regelmäßigen Kontakt bauten auch sie eine liebevolle Beziehung miteinander auf.

 

Lilly fiel in letzter Zeit auf, dass sich die Beiden in ihren Gedanken extrem voneinander fernhielten. Sie dachte, es wäre nur Einbildung … eine Actionszene in ihrem Kopf. Sie warnten sie oft vor dem drohenden Unheil - Den Abgrund, der über die Bevölkerung kommen wird. Sie erzählten ihr soviel davon! Dass er nun wirklich vor ihr sitzt, und ihre Leben oder Seelen oder was auch immer retten will, bleibt für Lilly unvorstellbar.

 

„Sie ist in Gedanken“, lacht Jack. „Das macht sie sogar, wenn sie schon auf der Bewusstseinsebene ist.“

 

„Was meinst du?“ Nachdenklich sieht Lilly ihn an.

 

„Dein Mann fragt dich, wer Rangedia ist.“

 

„Was ist das überhaupt für ein Name?“, hakt Steve ein.

 

„Das ist ein Seelenname oder denkst du, ich heiße Jack?“ Wie verrückt betätigt er das Gaspedal und rast durch die vier roten Seelensäulen, die vor ihnen erscheinen, einfach hindurch. Ihre kurzzeitigen Berührungen hinterlassen ein Brennen auf der Haut.

 

„Scheiße, was ist das? Warum tut es weh?“, brüllt Steve und haut sich auf die Beine, als wolle er ein Feuer löschen.

 

„Das sind die Ansichten von ihnen, sie lassen sie euch spüren.“

 

„Schmerzen? Sind das auch deine Ansichten?“ Steve ist verständlicherweise voller Fragen. Lilly braucht sie nicht zu stellen, sie kennt die meisten Antworten. Andauernd haben sie sich darüber unterhalten. „Dann ist ja gut, wenn es nicht deine Ansichten sind“, stellt ihr Mann erleichtert fest.

 

„Aber was bringt es euch? Ihr seid unsterblich, ihr könnt keinen Krieg gegeneinander führen. Ihr könnt euch nicht vernichten, zum Glück! Selbst wenn ihr die Menschen foltert und tötet, so lasst ihr nur ihre Seelen frei und sie ziehen weiter. Wo ist der Sinn vom Ganzen?“, fragt sie.

 

„Nein du verstehst das falsch. Wir foltern keine Menschen. Ich weiß nicht was die roten, schwarzen und gelben Seelen machen, aber wir nicht.“

 

„Die Farben symbolisieren die Ansichten?“

 

„Ja Steve, die Ansichten und ihre Erfahrungen.“

 

„Du kennst meinen Namen?“

 

„Natürlich, ich kenne alle aus ihrer Familie. Ich habe eine andere Seele losgeschickt, um SIE zu holen.“ Kurz dreht er sich zu Lilly, sein Gesicht ist so … sie muss mich erst daran gewöhnen, es mit richtigen Augen sehen zu dürfen. Natürlich weiß sie sofort, dass er mit SIE ihre Mutter und die Oma meint. Die Verständigung der Beiden bedarf normalerweise kaum Wörter.

 

„Wie heißt du? Welche Farbe hat deine Seele?“, fragt der unwissende Ehemann.

 

„Ich heiße Malidan.“ Er hebt sein weißes Oberteil hoch und Steve ist starr vor Schreck. Lilly möchte es ebenfalls sehen, schnallt sich ab und zieht sich mühsam nach vorn. Es ist schwierig, weil er immer wieder beschleunigt. Ihm macht das Auto fahren sichtlich Spaß.

 

Fasziniert sieht sie in Malidans Seelenkörperöffnung. Sie befindet sich in Höhe des Unterbauches. Ein Loch, das größer als ein Tennisball ist, klafft an dieser Stelle. Dadurch sehen sie direkt in seine funkelnde, helle Seele, die ungestüm durch seine Körperhülle wirbelt. Inzwischen hat er auch einige blaue Stränge in sich, stellt Lilly fest. Steve kann seinen Blick nicht abwenden, sein Mund bleibt offen stehen, aber Lilly beendet ihn dennoch, um sich wieder sicher anschnallen zu können. Es ist ihr bei all den Umständen nicht entfallen, dass Malidan kein geübter Fahrer sein kann, auch wenn er es für seine Verhältnisse gut macht. Emotional bewegt schweift ihr Blick aus dem Fenster. Die Straße scheint kein Ende zu nehmen und sie ist nicht so stark befahren, wie normalerweise. Die meisten Autos stehen abseits der Straße. Das außergewöhnliche Naturschauspiel und die schlechte Sicht lenken viele Fahrer ab.

 

„Deine Seele ist so glitzernd weiß.“ Es fällt Steve schwer diese Worte zu sprechen.

 

„Wie wollt ihr uns nun eure Ansichten aufzwingen?“, fragt Lilly erneut und wird betrübt. Sie kann das Alles noch immer nicht fassen. Sie wollte NIE, dass es soweit kommt, auch wenn sie sich oft genug danach sehnte, ihn endlich einmal richtig sehen zu können. Jetzt hat sie Angst davor, weil sie nicht weiß, was auf sie zukommt.

 

„Wir zwingen Niemanden etwas auf, du verstehst es immer noch nicht. Wir zeigen unsere Ansichten den Menschen und sie können dann entscheiden. Und wenn die Seele frei ist, kann sie entweder auf dem Planeten bleiben und andere Leute damit beeindrucken oder auf unsere Planeten wechseln. Zum Glück gibt es sehr viele.“

 

„Das heißt es ist doch kein Krieg, sondern ihr nutzt nur diese Chance? Am Anfang klang es bei dir anders.“

 

„Ich wusste nicht, wie ich es dir auf die Schnelle erklären sollte. Es ist so kompliziert!“ Zweifelnd sieht er zu Lilly und sucht die richtigen Worte. „Ja, wir nutzen diese Gelegenheit. Wir sind uns nur nicht sicher, wie die Menschen darauf reagieren. Vor den Seelen können wir euch nicht beschützen, das könnt nur ihr selbst, deshalb entscheide dich für meine Seite, dann hat Rangedia keine Chance. Das hohe Gebäude, in dem wir uns aufhalten ist wichtig, denn es wird euch vor den unberechenbaren Menschen schützen.“ Malidan wird langsamer, weil sich die Straße mit Autos füllt. „Viele sind auf den Weg dorthin und viele wollen uns auch daran hindern. Das denke ich zumindest, ich kann die Situation nicht einschätzen.“

 

„Was machen wir jetzt?“, fragt Steve, als das Auto zum Stillstand kommt. Malidan schaut sich nervös um und sieht dann sorgenvoll zu Lilly.

 

„Ich muss euch dort sicher hinbringen, das habe ich euren Kindern versprochen“, antwortet er nachdenklich. Diese neue Seite kennt Lilly von ihm noch nicht. Sie beunruhigt sie und lässt sie sofort an ihre Kinder denken. „Wir müssen den Rest laufen! Dort hinten ist unser Gebäude, könnt ihr es sehen? Da müssen wir hin!“

 

Es fliegt kaum noch schwarze Materie umher, sodass die Aussicht auf das helle Gebäude, das so glitzert wie Malidans Seele, sehr gut ist. Lilly hadert mit ihren Ängsten. Es ist wirklich nicht weit entfernt, aber durch die Unsicherheit, was sie da draußen erwartet, können wenige Meter schon ewig lang sein. Es sind auch keine Menschen außerhalb ihrer Autos. Warum nicht? Wieso steigen sie nicht aus, wundert sich Lilly.

 

„Wir machen es so. Wir steigen auf meiner Seite aus, weil dort die Häuserwand näher ist. Ihr bleibt ganz dicht an ihr und ich schütze euch, so gut es geht.“

 

„Toller Plan“, antwortet Lilly skeptisch, doch das interessiert ihn nicht. Er öffnet seine Tür, steigt aus und Steve rückt auf den Fahrersitz und umfasst das Lenkrad.

 

„Kommt, wir schaffen das“, versucht Malidan sie zu ermutigen, obwohl ihm der Zweifel ebenfalls ins Gesicht geschrieben steht. Vor Lilly kann er nichts verbergen. Unsicher sieht sie ihrem Mann in seine braunen, angsterfüllten Augen und dann in Malidans fordernde, der ihre Türen geöffnet hält. Ihm dauert jede weitere Überlegung zu lange, er packt beide an den Händen, zieht sie heraus und rennt mit ihnen an die Häuserwand.

 

Dumpfes Knallen aus der Weite lässt die Drei zusammenzucken. Malidan drückt seine Schützlinge gegen die Wand und stellt sich bewachend vor sie. „Wir müssen nicht weit, das schaffen wir!“, sagt er aufgeregt und zieht sie an der Häuserfassade entlang.

 

Kurz erhascht Lilly einen Blick in die stehenden Autos, in denen sich Menschen an den Fenstern die Nasen platt drücken. Einige steigen aus und folgen ihnen, obwohl das Knallen lauter wird. Aufgeregt zittert Lillys ganzer Körper und sie sucht die Hand von Steve, der dicht hinter ihr läuft. Sie spürt seine vibrierende Hand in ihrer und tankt dadurch neue Kraft. Abwechselnd sieht sie zum Boden und an die Wand. Sie orientiert sich an ihr, bis ein Knall und der zerbröckelnde Beton, direkt vor ihr, alle ruckartig stoppen.

 

„Oh mein Gott, die schießen!“, schreit Steve und einige andere.

 

„Es gibt keinen Gott“, wirft Malidan ein und zieht sie an den Oberarmen weiter. Lilly will nicht mehr laufen, weil sich alles in ihr sträubt und die Angst bis ins Unendliche reicht. Sie duckt sich, um sich so klein wie möglich zu machen und es knallt weiter.

 

Überall an der Wand entstehen neue Einschusslöcher und etwas weiter entfernt splittert Glas. Die Menschen hinter ihnen verfallen genauso in Panik und kreischen wild durcheinander. Lilly kann nicht erkennen, woher die Schüsse kommen und eigentlich möchte sie das auch nicht. Nur noch schnell weg und in Sicherheit sein! Das Gefühl der Angst und die beginnende Lähmung verwandeln sich schlagartig in einen Überlebenskampf.

 

Sie rennen um ihr Leben!

 

Einige überholen sie, doch sie kommen nicht weit und fallen wie nasse Säcke um. Malidan fungiert als Schutzschild und fängt die Kugeln ab, die Steve und Lilly treffen würden. Allerdings beruhigt sie das nicht, da sie nicht weiß, ob er das noch lange kann und wo der Ursprung des Schießens ist. „Er kann ja nicht überall sein!“, denkt sie.

 

Das nächste Gebäude schimmert funkelnd hell und lässt die graue Fassade, an der sie gerade vorbeirennen, erstrahlen. Das Ziel ist so nahe und der Kugelhagel wird schlimmer. Die Öffnung von dem Gebäude ist riesig und erinnert Lilly an eine Pforte. Malidan schubst beide durch sie hindurch und es ist wie ein dünner Vorhang durch den sie dabei gleiten, nur die Kugeln dringen nicht durch ihn und prallen daran ab.

 

„Da draußen sind noch mehr!“, ruft Malidan und folgt einigen lebensmüden Helfern wieder hinaus.

 

Schnell atmend fallen Steve und Lilly sich in die Arme. „Das ist alles verrückt! Ich will das nicht!“, keucht sie. Steve rückt sie vom Eingang weg und macht Platz für Malidan und die anderen. Sie tragen blutüberströmte Körper über ihren Seelenschultern und bringen sie weg. Dieser Anblick ist schrecklich! Lilly muss sich hinsetzen, denn ihre Beine wollen sie nicht mehr tragen. Erschüttert sackt sie zusammen, legt die Hände vor ihre Augen und schreit in ihren Gedanken. „Ich möchte nichts mehr sehen! Das ist doch irre! Warum wurde auf uns geschossen? Sind DIE bescheuert?“

 

Steve hält sie fest und spendet dabei Trost, so gut es möglich ist, bis Malidans Stimme vor ihnen ertönt. „Ihr seid in Sicherheit. Nun müsst ihr nur noch dort durch.“ Lilly sieht auf und schaut durch die riesige Eingangshalle. Überall ragen weiße Seelensäulen in die Höhe. Sie beschützen eine weitere Absperrung hinter der sie ihre beiden Kinder erkennt.

 

„Steve, da sind Amy und Jason!“ Freude gewinnt die Oberhand, sie springt auf und zeigt weinend zu ihnen.

 

Wie schon bei ihrem Jeep, sind sie auch bei den Namen der Kinder amerikanisch angehaucht. Dadurch, dass Steve und seine Eltern in Westberlin groß wurden, war es immer ein Teil von ihm und auch Lilly faszinieren die amerikanischen Ureinwohner und die umfangreiche Natur, die dieses Land zu bieten hat, seit früher Jugendzeit.

 

 

 

Steve geht durch die weiße Absperrung einfach hindurch und umarmt sie. Sie winken ihrer Mutter zu, doch die traut sich nicht weiter zu gehen.

 

„Ich habe mich nicht sicher entschieden, kann ich da überhaupt durch?“, fragt sie Malidan vorsichtig. „Sie sehen doch garantiert meine Verbindung zu Rangedia?“

 

„Das ist egal, sie sehen auch unsere und deine Absichten. Du hast keine schlechten und willst hier Niemanden etwas böses, deshalb kannst du passieren.“ Er legt seine Hand auf ihren Rücken und schiebt sie an den Seelensäulen vorbei durch die Absperrung.

 

Es ist wie eine andere Welt in der sie plötzlich stehen. Alles ist von Glück erfüllt, das sich auch rasant in ihrem Körper verteilt. Es ist wie ein Adrenalinstoß.

 

„Ist es noch dasselbe Gebäude?“

 

„Ja natürlich. In eurem stofflichen Zustand könnt ihr keine Ebenen wechseln. Im Bewusstsein geht das, aber nicht mit dem kompletten Körper. Natürlich haben wir hier etwas an- und umgebaut, das wirst du spüren. Den meisten Menschen wird es aber gar nicht auffallen, weil sie nie offen für uns waren. Sie kennen die Eindrücke nicht.“

 

„Mama!“, ihre Kinder fallen Lilly in die Arme. Endlich ist sie bei ihnen und drückt sie fest an sich. Sie sind der Hauptgrund, warum sie hier ist, denn bei diesen Seelen wird ihnen nie etwas Schlimmes widerfahren.

 

„Oma und Uroma sind auch schon da“, erklärt Jason stolz. „Sie sind auf ihren Zimmern.“ Beide nehmen Lilly an eine Hand, beenden damit ihre Restangst, die noch leicht nachhallt und führen sie zu dem überfüllten Fahrstuhl.

 

Mit Steve und Malidan im Schlepptau drängeln sie sich in ihn und Jason drückt auf die 112. Etage. Lilly wird schon bei der Vorstellung über die Höhe total übel. Normalerweise ist Steve derjenige der Höhenangst hat, aber seine plötzlich geweckte Neugier und die Glücksgefühle, lassen ihn vieles vergessen. Auch die anderen Menschen in diesem großen Lift sehen aus, als wäre es für sie ein riesiges Abenteuer, denn sie strahlen über das ganze Gesicht. Die Türen öffnen sich immer wieder und es dauert eine ganze Weile, bis sie das gewünschte Stockwerk erreichen.

 

 

 

***

 

 

 

Sie betreten einen gigantisch großen Raum. Die Wände bestehen aus vielen Fenstern und lassen dementsprechend sehr viel Sonnenlicht hinein, das kaum noch von dem Teilchensturm verborgen ist. Vor einer riesigen Fernsehleinwand bleiben sie stehen. Dort sprechen die Regierungschefs jeglicher Nationen und versuchen die Menschheit aufzuklären. Dabei erheben sich zwischen ihnen bunte Seelensäulen und verkabeln sich mit ihnen. „Wir dachten immer an Außerirdische“, lachen sie. „Dabei waren sie schon immer unter uns. Geister – Verstorbene – Seelen! Sie wollen uns nichts tun, sondern uns nur ihre Ansichten mitteilen. Lasst es zu … öffnet euch für Neues und entscheidet dann, wo ihr eure Zeit verbringen möchtet.“

 

Lilly sieht in die Menschenmenge, die um die Leinwand herum versammelt steht. Viele sind erstaunt, verblüfft, überrascht, verwirrt, es ist schwierig überhaupt etwas negatives zu fühlen, durch den Glücks-Kick. Vereinzelt ragen aber auch Menschen mit einem ängstlichen Blick heraus, anscheinend sind sie dagegen immun.

 

Weiße Seelensäulen schweben an ihnen vorbei und manche haben auch mehrere Farben in sich, wobei immer der Hauptteil entscheidend ist. Die Farbe, die überwiegt, ist die Ansicht, die sie hauptsächlich vertreten.

 

Lilly guckt zu Malidan, der auch zu einer Säule hochgegangen ist und kann nun die blauen Anteile in ihm viel besser sehen. Sie kann es immer noch nicht fassen, das ALLES. „Es muss doch ein Traum sein?“

 

Ihre Tochter Amy zieht stark an ihrem Arm und zeigt ihr so, dass es keiner ist. „Wir sind gleich bei Oma, da hinten ist der Flur, wo es zu den Zimmern geht. Ihre Tür hat die Nummer 412.“

 

„Weißt du was am schlimmsten ist Mama?“

 

„Was denn Jason?“

 

„Wir müssen hier auch in die Schule! Dabei hat Malidan uns versprochen, das hier alles gut ist. Aber wenn wir wieder in die Schule müssen, kann es doch nicht gut sein?“

 

Lilly muss über Jasons Worte lachen. Er ist so süß und wie er bei dieser Feststellung sein Gesicht verzieht.

 

„Das hat Malidan garantiert auch anders gemeint mit dem gut. So schlimm wird es schon nicht werden, lass dich überraschen. Wo ist denn nun die Oma? Ich muss sie knuddeln.“

 

Amy nimmt die Hände ihrer Eltern und führt sie zu der Tür. Malidan ist inzwischen wieder im Seelenkörper und wird von Jason in ein Gespräch verwickelt: „was das denn nun mit der Schule soll!“ Dabei laufen sie hinter ihnen und er fragt immer wieder beharrlich: „ob das wirklich sein muss?“

 

„412.“ Amy klopft gegen die Tür und Lillys Mutter öffnet sie überglücklich. Die Freude erreicht ihren Höhepunkt, weinend schließt Lilly sie in ihre Arme. Sie ist ebenfalls ein guter Grund für sie, hier nie wieder wegzugehen. Ihre Oma hinkt auf sie zu und beteiligt sich an der Umarmung.

 

„Ich bin so glücklich, dass ihr auch hier seid. Zum Glück ist euch auf den langen Weg nichts zugestoßen.“

 

„Ach Quatsch, die zwei Stunden. Die haben wir auf einer Backe abgesessen, nicht wahr Manja?“ Lillys Oma redet in ihrer gewohnt schrägen Art und nickt ihrer Tochter zu.

 

„Stimmt, außerdem hatten wir eine tolle Begleitung. Zum Glück hast du mir schon vorher etwas über Seelen erzählt, sodass ich, als mein verstorbener Freund vor mir stand, nicht zu sehr aus den Latschen gekippt bin. Er hat uns dann sicher hierher gebracht.“

 

„Meinst du Andre?“, fragt Lilly und hält den Atem an.

 

„Ja.“ Ihre Mutter nickt und noch mehr Tränen fließen aus Lillys Augen. Er starb unerwartet vor vielen Jahren und sie kam nie über seinen Tod hinweg. „Das hat wohl jetzt ein Ende“, denkt sie und kann den neuen Tatsachen etwas Positives abgewinnen.

 

Steve setzt sich auf die orangefarbene Couch, die dort steht und schüttelt ungläubig den Kopf. „Ich musste jetzt soviel erfahren, mit dir und dem da!“ Seine Augen wandern abfällig zu Malidan. Lillys Mutter blickt zu ihm und ihr Mund bleibt offen stehen.

 

„Genauso habe ich dich in meiner Phantasie gesehen. Lilly erzählte mir einiges über dich.“ Er lächelt sie an und sie nimmt ihn in die Arme.

 

„Schön, das du von ihm wusstest. Ich bin der doofe Ehemann! Auch wenn er uns gerade half, bin ich jetzt nur noch sauer. So langsam kommt alles bei mir an!“ Bei Steve lässt das Glücksgefühl abrupt nach.

 

„Ach jetzt hör aber auf“, entgegnet die Oma und setzt sich neben ihn. „Du kannst doch Lilly nicht verurteilen.“

 

„Du weißt doch gar nicht worum es geht! Misch dich nicht immer ein“, schimpft Steve. Sie kräuselt ihre Lippen, schnappt sich die Kinder und verlässt das Zimmer.

 

„Hier gibt es viele Spielplätze, sie kennen sich schon aus“, versucht Malidan mit seiner friedlichen Art die Stimmung zu beruhigen. Lilly traut sich nicht mehr ihn anzusehen, denn sie möchte Steve nicht noch mehr reizen.

 

„Was ist mit dem Anderen, war er auch schon da?“, fragt die Mutter neugierig und sieht Lilly interessiert an. Es war für sie vor Jahren eine Erleichterung, als sie ihrer Mutter von ihrer anderen Seite erzählte und sie nicht für verrückt gehalten wurde. Dadurch konnte Lilly sich ihr weiter anvertrauen und das war ein sehr schönes Gefühl.

 

„Wie heißt er noch?“, fragt sie. „Ich konnte mir diese Seelennamen nie merken, geschweige denn aussprechen.“

 

„Er heißt Rangedia.“ Als der Satz Lillys Mund verlässt, wird es in dem Zimmer kalt. Sie schließt die Augen, hört den Schrei von Steve und ihrer Mutter und weiß, wer nun neben ihr steht.

 

„Lilly? Du hast mich gerufen?“, hört sie eine sehr tiefe, vertraute Stimme.

 

„Nein Rangedia, das habe ich nicht. Meine Mutter fragte nur nach deinem Namen.“ Langsam öffnet sie ihre Augen und blickt auf die dunkle Erscheinung. Er sieht aus wie immer. Schwarze, lange Haare verdecken teilweise sein wunderschönes Gesicht, welches ebenfalls nasenfrei ist. Seine Augen sind tiefschwarz, genauso, wie auch seine komplette Bekleidung. Damit sieht er, wie der Tod höchstpersönlich aus und es fehlt nur noch, dass er eine Sense schwingt. Lächelnd umarmt er Lilly. Sie kann es nicht fassen.

 

„Na toll, noch so einer. Ich habe ja schon gegen Malidan keine Chance!“ Aufgebracht stürmt Steve aus dem Zimmer.

 

„Ich versuche ihn zu beruhigen und zeige ihm dann eure Unterkunft.“ Malidan läuft Steve nach und Lillys Mutter kann ihren Blick nicht von Rangedia richten.

 

„Manja, ich wollte mich noch bei dir bedanken, du weißt wofür.“ Er nimmt sie in den Arm und sie schüttelt nur den Kopf.

 

„Nein, nicht wirklich.“ Daraufhin flüstert er ihr einige Worte in ihr Ohr, welche sie zum Lächeln bringen. „Das habe ich gern gemacht.“ Er küsst ihre Hand und dreht sich wieder zu Lilly um.

 

„Du wirst wahrscheinlich hier bleiben wollen, oder?“

 

„Ja, hier ist meine ganze Familie. Zumindest die, die mir etwas bedeuten. Schade, dass du nicht die Ansichten teilst. Ist deine Seele immer noch rot?“ Er nickt und hebt sein Oberteil. Rote Masse mit kleinen schwarzen und weißen Teilchen strömt durch sein Innerstes. „Schade.“

 

„Du brauchst deswegen nicht so traurig schauen, wir können uns trotzdem treffen. Es hat keinen Einfluss auf unseren Kontakt oder unsere Verbindung.“

 

„Doch! Alles, was hier passiert ist, beeinflusst uns! Das ist die menschliche Ebene, die ihr hier betretet. Und auf dieser Ebene bin ich mit Steve verheiratet und sollte nur für ihn da sein! Der Kontakt zu dir und Malidan wird unsere Ehe erschweren!“

 

„Haben wir das nicht schon immer?“, fragt er und nimmt ihre Hände.

 

„Ja, aber nicht so direkt, immerhin wusste er nichts von euch. Er hat immer nur durch mein Verhalten gespürt, dass ich mich unterbewusst noch mit anderen Dingen beschäftige. Dadurch hat er automatisch unter euch gelitten. Aber jetzt?“ Lilly beginnt wieder zu weinen. Rangedia nimmt sie in den Arm und hält sie fest. „Es war gestern noch einfacher“, schluchzt sie. „So wird es nie wieder sein!“

 

„Wir finden einen Weg“, verspricht er. Lilly schüttelt den Kopf, denn sie kann keinen sehen, löst sich aus der Umarmung und läuft zum Fenster. Dahinter ist eine dünne, helle Masse, wie beim Eingang. Es scheint, als würde sie das komplette Gebäude umschließen und lässt dessen ungeachtet weiten Blick in die Umgebung zu. Es fliegen nur noch vereinzelte, schwarze Partikel durch die Luft und auch diese prallen an der komischen Außenfassade ab.

 

„Was ist das für ein Zeug? Weißt du es, Rangedia?“

 

„Ja, es ist Seelenmasse, nichts Gefährliches kann dort hindurch dringen. Es soll euch zum Schutz dienen und jedes Gebäude, das von Seelen besetzt ist, hat dies.“

 

„Also sind diese Partikel für uns riskant?“

 

„Nein, aber sie würden, wenn sie durch die Häuser fliegen, eure Sicht stören.“

 

„Euch stören sie nicht, oder? So wie Malidan das Auto fuhr?“

 

„Nein. Nur euch hat die Mauer an der Wahrnehmung gehindert.“

 

„Das dachte ich mir.“ Beeindruckt beobachtet sie die Schutzmasse und sieht vorsichtig nach unten. Immer noch sind die Straßen von Autos überfüllt und Lilly überlegt, ob noch Menschen in ihnen sitzen. Durch die atemberaubende Höhe kann sie es nicht erkennen. Die Gedanken deprimieren und so sucht sie nach einer Ablenkung. „Ich gehe jetzt auch Steve suchen, kommst du mit Mutti?“

 

Sie nickt und Rangedia nimmt Lilly noch einmal in den Arm. „Es ist so schön auf dieser Ebene, ein ganz anderes Gefühl.“ Er lächelt und seine Augen funkeln vor Liebe.

 

„Ja ich weiß und deshalb ist es auch ab jetzt etwas anderes. Wir sehen uns garantiert noch.“ Er nickt und löst sich in Luft auf.

 

Manja nimmt ihre Tochter an die Hand und verlässt mit ihr das Zimmer. Durch den Flur drängeln sich viele Menschen und auch Seelen. Nun wird das Händehalten auch zu einer sicheren Maßnahme, damit sie sich im Getümmel nicht verlieren.

 

„Es ist viel zu voll hier! Wo gehen wir jetzt hin?“, brüllt Lilly, weil es durch die Menge auch sehr laut ist.

 

„Lass uns auf den Spielplatz gehen.“ Sie quetschen sich an den Leuten vorbei und stehen wieder in dem überfüllten Fahrstuhl. „Oje welche Nummer hatte die Etage?“ Lilly zuckt auf diese Frage nur die Schultern.

 

„Wohin möchten Sie denn?“, spricht eine junge Frau aus der Ecke.

 

„Spielplatz“, antwortet die Mutter kurz.

 

Die Frau zieht ein Klemmbrett aus ihrer Tasche und wühlt sich durch die Zettel, die daran befestigt sind. „Der Spielplatz ist im zehnten Stockwerk.“

 

„Okay, danke.“ Sie drücken die Zahl gleichzeitig und begeben sich auf eine langwierige Fahrstuhlfahrt. Dieses Gebäude hat unglaubliche 198 Etagen und er hält fast in jeder an. Dann fährt er wieder abwärts und es vergeht eine gefühlte Ewigkeit bis sich die Tür auf ihrer angegebenen Etage öffnet.

 

„Damit will ich nicht steckenbleiben, wobei ich das Gefühl habe, dies ist kein normaler Lift. Bestimmt haben die Seelen auch daran herumgebastelt.“ Manja schaut Lilly nach deren Feststellung fragend an, aber für lange Gespräche ist keine Zeit. Gemeinsam tauchen sie in eine neue Menschenhorde ein, die sich durch die Räume schiebt. Sie halten sich dabei dicht an der Wand, weil alles andere unmöglich wäre.

 

„Das ist ja wie bei einem Konzert!“

 

„Ja Mutti, schön wär’s.“

„Da hinten ist der Spielplatz!“ Der Strom der Leute zieht in eine andere Richtung, während sie geradeaus weiter laufen und wieder frei atmen können. Lilly nimmt sich einige Sekunden Zeit, legt ihre Hände an die Hüfte und atmet tief ein und aus. Dabei begutachtet sie den Spielplatz, der unzählige Spielgeräte bietet, auf denen aber kaum Kinder sind.