Als Julietta von der Krebserkrankung ihres langjährigen Freundes Aaron erfährt, ist sie außer sich und voller Verzweiflung. Sie kann sich kein Leben ohne ihn vorstellen und kommt auf eine Idee, von der ihr Ehemann garantiert nicht begeistert wäre, wenn er davon wüsste...

 

 

Bei Amazon für 2,99€ erhältlich

 

Leseprobe

 

Wenn die weißen Wolken still vorüberziehen

und ihr Antlitz leis zerfällt,

folgen neue weiße Wolken

schimmernd unterm blauen Firmament.

                               Aaron Larrson

 

-1-

 

„Das war ein wunderschönes verlängertes Wochenende mit dir.“

„Noch ist es nicht vorbei“, lächelt Marvin und gibt seiner geliebten Ehefrau einen Kuss auf den Mund. Julietta will seine Lippen festhalten und nicht mehr gehen lassen, doch der Kindertrubel um sie herum wird so laut, dass beide reagieren müssen und von einander ablassen.

„Was habt ihr denn?“, fragt Julietta und lächelt über den Anblick der sechs erwartungsvollen, braunen Kinderaugen.

„Hunger!“, schreien die drei Kleinen im Chor.

„Habt ihr euch hungrig gespielt?“ Julietta schaut in den Indoorspielplatz, der jedes Kinderherz höher schlagen lässt.

„Und was möchtet ihr essen?“, fragt der Vater, der seine Rolle in vollen Zügen genießt, weil er viel zu wenig Zeit mit ihnen verbringen kann.

„Pommes!“, schallt es abermals zeitgleich.

„Mit Ketchup“, versucht der 16 Monate alte Tom zu brabbeln und bekommt Hilfe von seiner älteren Schwester Maria. Julietta hätte ihn auch ohne die Kommunikationshilfe verstanden, weil sie mit Leib und Seele Mutter ist. Es gibt für sie keine schönere Beschäftigung, egal wie Kräftezehrend es manchmal ist. Sie sind ihr voller Stolz und sie ist dankbar für Jeden von ihnen. Sie bereichern ihr Leben und lenken sie die Woche ab, wenn Marvin auf Montage ist.

Während Julietta Tom in den Hochstuhl hilft, kauft Marvin drei Portionen Pommes mit Ketchup und trägt sie mit Max zum Tisch.

„Es war schön, dass wir mal nicht in den Kindergarten mussten. Unter der Woche ist es hier viel leerer“, stellt die fünfjährige Maria fest.

„Ja in der Schule geht das dann nicht mehr so einfach mit dem Freinehmen.“

„Und die ganzen Hausaufgaben“, wirft Marvin ein und hinterlässt ein langes stöhnen. Damit kann Maria zum Glück noch nichts anfangen und lächelt unwissend weiter, weil sie sich schon auf die Einschulung im nächsten Jahr freut.

„Wenn ihr fertig gegessen habt, könnt ihr noch ein Stündchen spielen und dann müssen wir nach Hause.“ Natürlich war es taktisch unklug von Julietta, diese Nachricht während des Essens mitzuteilen. Max beginnt zu schlingen, damit er noch zehn Minuten länger nutzen kann und als er mit seiner Fresstirade fertig ist, sind Maria und Tom plötzlich satt und gehen zusammen ins Bad Hände waschen.

Marvin muss laut über den schlechten Schachzug lachen und bekommt einen kräftigen Seitenhieb von Julietta. „Was solls, essen können sie auch später noch und so haben wir jetzt wenigstens Zeit für uns.“ Zärtlich berühren ihre Lippen Marvins und lassen ihr Herz, wie in der damals frischen Kennenlernzeit, höher schlagen. Sie vergisst die Welt um sich herum und genießt die viel zu seltenen, liebevollen, ruhigen Augenblicke mit ihm umso mehr.

Der Alarmton von Marvins Handy bringt sie zurück in die echte Welt. „Wir müssen los“, bedauert Marvin zutiefst.

Ein kurzer nörgelnder Kampf der Kinder beginnt, doch sie haben keine Chance und geben ihren Eltern nach. Marvins Versprechen, am Wochenende wieder mit ihnen hier her zu fahren, bestärkt ihren Entschluss und lässt sie erschöpft ins Auto einsteigen.

Die zwanzigminütige Fahrt ist schnell geschafft und bereitet Marvin auf seine bevorstehende längere vor. Er packt die letzten Dinge in der Wohnung zusammen, während Julietta einen kleinen Snack für ihre wieder hungrig werdende Meute zubereitet.

„Heute wieder Dienstag-Filmeabend mit Aaron?“, fragt Marvin nebenbei.

„Ja“, lächelt Julietta über diese Nachfrage. Sie beweist ihr, dass er, obwohl er die ganze Woche nicht da ist, trotzdem an ihrem Alltag teilnimmt.

„Was seht ihr?“

„Aaron darf heute entscheiden.“

„Also wird es lustig. Wie gern würde ich dabei sein.“ Auch wenn Marvin es innerlich bereut weiß er, dass es der richtige Weg ist, für die Arbeit wegzufahren. Dadurch konnte er seinen Arbeitsposten erhöhen und verdient mehr Geld für seine Familie, auch wenn er sie dann weniger sieht. Es tröstet ihn, dass es viele Familien in Deutschland so machen. Anfangs hatte er ein schlechtes Gewissen, besonders weil Tom erst drei Monate alt war als es begann. Die Beförderung stärkte seine Persönlichkeit und Julietta jammert deswegen nicht. Sie hat ihren guten Freund Aaron.

„Grüß ihn schön von mir. Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wir können ihn doch Samstag zum Essen einladen?“

„Sehr gern.“ Julietta grinst und gibt ihren Ehemann einen kurzen Kuss auf den Mund. Damit stellt er sich nicht zufrieden und fordert gierig mit seinem Mund nach mehr. Da es dank der Kinder schon ziemlich mühselig im Schlafzimmer geworden ist, will er nicht auch noch auf die anderen Liebesbekundungen verzichten.

„Ich liebe dich“, flüstert er während des Lippenspiels.

„Ich dich auch“, erwidert Julietta. „Pass auf dich auf, fahr vorsichtig und ruf an, wenn du da bist.“

„Ja natürlich.“ Marvins Augen strahlen mit seinem Mund um die Wette. Er sieht nicht mehr den Abschied, sondern den Anbeginn des nächsten Wiedersehens, was darauf folgt. „Tschüß Kinder“, ruft er durch den langen Flur.

„Papa warte“, schreien sie und lassen den Fernseher mit dem Nachmittagsprogramm links liegen. Es ist dieselbe Prozedur, wie jede Woche. Nesthäkchen Tom vergießt einige Tränen und kommt erst zur Ruhe, wenn Mama die Tür hinter Papa schließt und ihn dann in den Arm nimmt und tröstet.


 

-2-

 

Am nächsten Tag.

 

Sorglos spielen die Kinder von Julietta am Nachmittag auf dem kleinen Spielplatz im Innenhof der anliegenden Mietshäuser. Der Abschied vom Papa ist vergessen und Julietta genießt den ruhigen Moment mit Aaron auf der Bank.

Sein Blick schweift immer wieder gen Himmel und Julietta macht es ihm nach, weil sie die beruhigende Wirkung beim Blick in die Wolken von Aaron abgekupfert hat. Sie lässt sich die wärmende Aprilsonne ins Gesicht scheinen und spürt, dass dieses Mal etwas anders ist. Aaron ist nicht derselbe wie sonst. Seine Beine wackeln nervös um die Wette und er ist unheimlich still und erzählt ihr keine Anekdoten über die diversen Wolkenformen.

„Was hast du?“, fragt sie ihn. „Wir kennen uns zulange, als das du mir etwas verheimlichen könntest.“

Aaron schnauft und atmet laut ein und aus. „Ich musste nur eben daran denken, dass ich nie Kinder bekommen werde.“

„Nicht schon wieder dieses Thema. Das hatten wir doch schon sooft in der letzten Zeit. Auch du wirst deine passende Hälfte finden und dann schenkt dir deine Frau ganz viele kleine, süße, niedliche, total putzige Kinder.“ Belustigt streicht Julietta ihre langen schwarz gefärbten Haare aus dem Gesicht.

Aaron schüttelt traurig den Kopf. „Nicht mit meinen Angewohnheiten. Keine normale Frau möchte auf Dauer damit leben.“

„Deine autistischen Züge machen dich nur liebenswerter. Dank dir habe ich das Leben von einer anderen Seite kennengelernt. Die Welt wird durch deine Sichtweise reicher. Nicht du bist anders, sondern die anderen sind es. Du bist gerade erst 33 Jahre alt geworden und könntest selbst noch im hohen Alter Kinder zeugen. Deine Niedergeschlagenheit ist unbegründet.“

All die Mut bringenden Worte erreichen nicht ihr Ziel. Schweren Herzens bringt Aaron sein wahrlich letztes Geheimnis über die Lippen. „Ich werde nie eine Frau finden.“

„Hab Geduld, du hast noch viel Zeit“, setzt Julietta nach.

„Nein, die habe ich nicht. Weißt du noch ... die Zeit, in der es mir so komisch ging und du mich gezwungen hast, zum Arzt zu gehen?“

Julietta nickt zustimmend und wird durch Aarons anhaltenden Ernst und seine angsterfüllten grünen Augen, die gläsern wirken, besorgt.

„Ich habe dich belogen, als ich sagte, es sei eine schwere Erkältung, die mich schwächt und müde macht.“ Sein Adamsapfel bewegt sich ruhelos und lässt ihn mehrfach laut schlucken. Tränen rinnen über sein Gesicht. „Es ist Krebs.“

Beim letzten Mal, als Julietta ihn weinen sah, waren beide fünf Jahre alt. Sie spielten im Sandkasten des Kindergartens und eine fliegende Schippe traf Aarons Stirn. Die gemeinsam verbrachten Jahre spulen in Juliettas Kopf vorwärts. Ihr gemeinsamer Schulbeginn ... Der ganze Blödsinn, den sie ausheckten - Den Ärger, den sie zusammen bekamen ... Ihr erster Kuss und die weise Entscheidung danach, dass dies auch der letzte war, weil es sich nicht richtig anfühlte. Die Konfirmation ... das Ende der Schulzeit ... der Beginn ihrer Lehrzeit als Postfachangestellte, bei der sie ihren zukünftigen Ehemann Marvin kennenlernten. Er und Aaron verstanden sich auf Anhieb gut und vertrieben die anfänglich aufkommende Eifersucht von Marvins Seite. Fünf Jahre später feierten sie Hochzeit und nur einer kam als Trauzeuge infrage - Aaron. Kurz darauf gebar Julietta ihre Tochter Maria. Nur ein Jahr später folgte Max und Tom machte das junge Glück perfekt. Aaron war jede freie Sekunde bei ihr.

Sie fühlen sich unendlich wohl zusammen und wenn ein Tag ohne Kommunikation vonstatten geht, ist es, als ob ein wichtiger Teil von ihnen fehlt. Er ist ihr eine große Unterstützung, seitdem Marvin beruflich aufstieg und ein Filialwechsel in einer anderen Stadt damit verbunden war. Marvin ist nur noch am Wochenende zu Hause, doch damit hatte Julietta nie ein Problem - Aaron war da. Nichts konnte ihre tiefe Freundschaft trennen ... nichts ... Krebs.

Das letzte Wort dämmert unzählige Male durch ihren Kopf. „Krebs? Wie? Warum?“ Mit zitternden Händen wischt sie ihre entstandenen Tränen aus den Augen und steht auf. Ihr unruhiger Körper möchte sich bewegen und nicht entspannt auf der Bank sitzen, als wenn nichts wäre. „Du kannst Chemo machen ... es gibt unzählige Möglichkeiten.“

„Ich werde keine von diesen Optionen durchführen lassen. Der Krebs frisst mich von innen auf, es wird nicht mehr lange dauern, bis ich ein Pflegefall werde und auf meine Erlösung warte. Die Prognose des Arztes waren zehn Monate, wo finde ich in dieser Zeit Frau und Kinder?“ Auch wenn es Aaron als Kind schwer fiel, die Emotionen anderer Menschen zu verstehen, war dies bei Julietta von Anfang an anders. Bei ihr fühlte er sich sicher und geborgen. Er machte intuitiv immer alles richtig und hört auch dieses Mal auf sein Gefühl. Er greift nach Julietta und zieht sie an sich heran. Seine Umarmung wirkt beruhigend - zumindest war das zuvor immer der Fall.

Juliettas Gehirn rotiert hin und her. Ist es nur ein Spaß - ein Traum? „Zehn Monate?“ Ihr schluchzen verwandelt sich in einen hysterischen Anfall und beginnt Aaron zu überfordern. Sie presst ihren Kopf gegen seine Brust um jegliches Schreien zu verhindern.

„Bitte beruhige dich“, sagt er automatisch, wie er es in den Therapiestunden zur Förderung der sozialen Empathie gelernt hat. Aarons Arme umschlingen Julietta und geben ihr Halt. Ohne den würde sie schutzlos zu Boden sacken und der echte Erdboden würde für sie Beweis genug sein, das dies kein erhoffter Alptraum ist.

„Mama?“ Sprössling Tom zupft fordernd an den Hosenbeinen der beiden. „Mama?“

„Gleich Tom, Mama ist gleich für dich da“, antwortet Aaron in zurückerlangter gewohnt ruhiger Stimme und verstärkt damit Juliettas Hysterie.

„Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“, versucht sie zu erfragen und braucht dafür mehrere Anläufe.

„Ich hatte genug Zeit mich darauf vorzubereiten. Panik bereitete es mir nur, es dir zu sagen. Eigentlich wollte ich es für mich behalten, aber...“ Ein unerbittlicher Weinensdrang bringt seinen Satz zum erliegen.

„Mama?“

„Tom bitte, geh zu deiner Schwester.“ Julietta spricht mit gebrochener Stimme, streichelt ihm kurz über den Kopf und beobachtet seinen noch unsicheren Gang zu Maria. Die große Schwester nimmt sich seines Problems an und erinnert Julietta an die Zeit, als Aaron von allen Kindern gehänselt wurde, weil er sich nicht so benahm wie sie. Wenn er rennen musste, sah es steif und ungeschickt aus und er wurde zur großen Lachnummer. Sein größtes Interesse waren die Wolken und kein spielen auf dem Schulhof. Julietta stand ihm bei und lauschte seinen wundervollen Gedankenaustausch bei dem Blick in den Himmel. Sie genoss seine Unbeschwertheit, denn ihn kümmerte das Verhalten seiner Mitmenschen nicht. Nach der Lehrzeit übernahm er den Beruf als Postboten. So konnte er etlichen sozialen Kontakten aus dem Weg gehen und nahm seine Schubladendiagnose ‚Autismus’ an.

„Eigentlich wollte ich es für mich behalten, aber beim Anblick deiner Kinder entschied ich mich um“, vollendete Aaron seinen vorherigen Satz.

„Weiß deine Mutter davon?“

„Nein, nach dem Tod von Vater würde sie es zu sehr belasten, sagt der Arzt.“

„Das hat dir der Arzt gesagt?“

„Vielleicht?“ Sein kindliches Lächeln kehrt zurück und unterstreicht seinen spitzbübischen Blick, den er seltsamer Weise nie verlor.

„Mama, wir wollen hoch.“

„Ja, lasst uns nach Hause gehen, heute brauche ich einen Schnaps ... verdammt ich habe keinen.“

„Zur Feier des Tages werde ich uns einen kaufen gehen.“ Aarons Entscheidung steht, wie jede seiner Meinungen, felsenfest. Jeder verspätete, überlegte Einwand ist sinnlos, so lässt Julietta ihn ziehen und bezwingt mit ihren Kindern die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung.

Kurzatmig wühlt sie nach dem Schlüssel in ihrer Hosentasche und stößt ebenfalls auf ihr Handy. Schnell verliert sich der Gedanke, ihren Ehemann Marvin anzurufen, denn wie jedes Mal fetzen sich die zwei großen Geschwister noch vor der Tür. Die wichtige Aufgabe des Aufschließens und die Vergesslichkeit von Julietta, wer am Vortag dran war, führen immer wieder aufs Neue zu einem großen Streit. Ihre Nerven sind, aufgrund von Aarons Bekenntnis, dünn und so übernimmt sie den Part. Es endet in einem großen Geschrei aller, denn auch Knirps Tom möchte es seinen Geschwistern gleichtun.

Die geräumige, helle Altbau-Vier-Zimmer-Wohnung bietet ausreichend Platz für zwei große Kinderzimmer und der Lärm schallt durch den Flur.

„Geht alle in eure Zimmer.“ Max und Maria verstehen die Aufforderung und gehorchen wutentbrannt. Nur der kleine Tom wird durch die lauten Worte seiner Mama unruhig. Er möchte kuscheln und nichts anderes. Julietta atmet tief ein und aus. Ein Güterzug mit unbekanntem Ziel rast durch ihren Kopf und röhrt unaufhörlich. Toms weinen startet Juliettas Intuition nach Trost. Er sucht ihn, sie sucht ihn. „Tom, ich habe es nicht so gemeint. Mir tut alles leid.“ Die kleinen Händchen greifen nach ihr und befördern ihn direkt in ihre Arme. Seite an Seite, Tränen an Tränen - nur die Gründe sind verschieden und Julietta atmet weiter tief ein und aus um sich zu beruhigen.

„Mama dürfen wir wieder rauskommen?“ Vorsichtig lugt Maria durch einen kleinen Spalt ihrer Tür.

„Ja natürlich. Es tut mir leid, ich weiß nicht...“ Ihr klingelndes Handy unterbricht den notdürftigen Erklärungsversuch.

„Ja Schatz?“ Julietta wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und sucht nach ihrer normalen Stimme. Marvin ist am anderen Ende der Leitung und erkundigt sich nach dem Befinden aller.